Bremen im September 2000, in der Galerie im Bunker F 38
(gekürzte Fassung Juli 2009)
In gewisser Weise erleben wir heute eine
Premiere. Natürlich ist dies nicht die erste Ausstellung
von Ellen Heinemann. Seit fast zwanzig
Jahren arbeitet sie vorwiegend als Malerin hier in Bremen,
wo sie 1983 auch ihr Studium an der
Hochschule für Künste abgeschlossen hat. Zahlreiche
Ausstellungen und Wettbewerbe liegen daher
an ihrem Weg. Zum ersten Male aber stellt sie
heute ihre Zeichnungen aus. Arbeiten
verschiedenster Art, entstanden seit den achtziger Jahren
und bis heute kommen überwiegend erstmals
ans Licht. Sie auszustellen ist sicher ein guter
Gedanke, denn die Zeichnung ist insgesamt
betrachtet ein wesentlicher Bestandteil der Kunst
von Ellen Heinemann.
Auch wenn ihre heutige Malerei das kaum
annehmen lässt, hat sich die Künstlerin kontinuierlich
und intensiv mit Zeichnung in jeder Form oder ganz allgemein mit dem Medium Papier ausein-
andergesetzt. Die Verbindung zur Malerei war deutlicher in den frühen achtziger Jahren,
als sie noch experimentell arbeitete. Gegenstände fanden oft in zeichnerischer Form
Eingang in ihr Werk. Ein gutes Beispiel dafür ist das Triptychon aus dem Jahre 1982. Eine
beiläufige Auswahl von Gegenständen wurde durch Kopieren und Projektion verfremdet in die
Gestaltung aufgenommen.
Nur etwa ein Jahr später entstand das
gegenüber angebrachte Diptychon,
heute in städtischem
Besitz. Zwei Männerköpfe hat die Künstlerin
zunächst zeichnerisch gleich gestaltet, dann aber
durch Farben und erste konstruktivistische
Elemente ganz unterschiedlich charakterisiert.
Geistiges Blau, dazu eine kraftvolle,
martialische Ausarbeitung lassen den einen zum Magier
werden, zarter und verspielter ist dagegen der andere Kopf, ein Narr.
Zwei aktuelle Arbeiten der Künstlerin sind
in der Ausstellung zu sehen. Ihre Malerei thematisiert
heute die auf die Grundbestandteile
reduzierten Bildmittel: Linie, Fläche und Punkt, dazu der
Farbenkreis. Das Format wird gelegentlich
durch die Bemalung der Kanten der Leinwände
hervorgehoben. Auf den ersten Blick haben
diese Bilder - großflächig, farbintensiv – mit
Zeichnung absolut nichts zu tun.
Insbesondere, wenn Zeichnung als eine freie Gestaltung aus
verschiedenartigsten Linien aufgefasst sei.
Dennoch sind sie mit Hilfe von Linien konstruiert
und geht ihnen nicht selten eine Skizze als
Konzept voraus. Ein hier ausgestelltes
Aquarell von 1999 gehört nicht zu
diesen Skizzen, ist aber doch inhaltlich eng mit der Malerei
verbunden, führt ihre Thematik quasi in
reiner Form vor. Aus einer Abfolge von Farben und
Formen, die die Bestandteile ihrer Malerei
in einer sehr reinen Form aufnehmen, konstruiert
die Künstlerin ein hochformatiges Bild: ein
rotes Quadrat, blaue Punkte, gelbe Linien – die
drei Grundfarben in Grundformen. Erstaunlicherweise
tragen die blauen und gelben Formen
das rote, intensive Quadrat, das dadurch
eine große Leichtigkeit gewinnt. Dazu trägt natürlich
auch die zarte Farbigkeit der Aquarellfarbe
bei.
Insofern ähnlich ist ein weiteres Aquarell in der
Ausstellung. Es zeigt eine männliche Halbfigur,
eigentlich nur einen Torso mit dem Kopf.
Der Mund leuchtet rot hervor. Ein Rot, so leuchtend
wie zart, die geschwungenen Linien, die bis
zum Bauchnabel hinabführen, machen diese
Gestalt so erotisch, so androgyn.
Beide Aquarelle hat Ellen Heinemann mit den
klassischen, wertvollen Materialien ausgeführt.
Doch darauf ist die Künstlerin nicht
festgelegt. Viele Arbeiten nutzen einfachste Mittel: Notizzettel,
Kopierpapier, Filzstift und Kugelschreiber.
Dabei sind die Ergebnisse durchaus wirkungsvoll.
Die Zeichnung einer Katze auf
Computerpapier
mit Filzstift wirkt sehr klar, konsequent und
graphisch durchgestaltet, letztlich einem Holzschnitt ähnlich.
In diesem Sinne gehört auch die 100er Serie
von 1983 zur Arte Povera. Sie
ist ein sehr gutes
Beispiel, um die vielen verschiedenen
Facetten von
Ellen Heinemanns Zeichnungen zu sehen.
Innerhalb eines Jahres entstand diese Serie
auf einem Notizblock, wovon 100 Blätter ausgewählt
und gerahmt wurden, die als Einheit zu
verstehen sind. Motivische und formale Verbindungen
erzeugen gewisse Spannungen.
Entwurfsskizzen sind darunter, private Äußerungen, die
Auseinandersetzung mit dem Problem von
Figur und Grund, Paare und Köpfe, Gegenständliches
und Ungegenständliches, Rätselhaftes und
Witziges, ein wenig Brecht, ein wenig Beckett.
Gedankensplitter auf Papier, abwechslungsreich wie das Leben selbst.
So wie dieser Notizblock über ein Jahr hinweg
Bildgedanken aufnahm, entstanden auch die
anderen Arbeiten auf Papier neben der
Malerei, also stets begleitend dazu. Manch ein
Zwitterwesen ist dabei entstanden, halb Zeichnung, halb Gemälde.
Eine Leinwand ist hier ausgestellt, die
eine rote Horizontlinie teilt. Der darunter liegende Bereich
ist schwarz, unterbrochen von dem
blauschwarzen, breiten Rücken einer Person, die uns
ihr Gesicht zuwendet. Nur
dieses Gesicht, dieser
Kopf überschreitet den Horizont, er ist mit dem
Pinsel locker gezeichnet und nach oben hin
offen – völlig frei und leicht. Offen für alle Gedanken.
Unten ist dieses Bild Malerei, oben dagegen
Zeichnung, und zwar eine glücklich gelungene.
Der Kontrast ist bemerkenswert.
Man sollte auch wissen, dass die vielen
Bildnisse hier in der Ausstellung in der Regel keine
Porträts sind. Es sind Kunst-Gestalten, die
sozusagen während des Malvorgangs Mensch
und Gestalt für die Künstlerin werden. Man kann sie daher als Geschöpfe aus ihrer eigenen
Persönlichkeit heraus verstehen, Facetten des Selbst.
Im Jahre 1987 entstanden jene zwei Engel,
die oben im Eingangsbereich hängen. Auf zartem
Japanpapier, der eine himmlisch sanft, der
andere höllisch frech. Bei diesen Arbeiten reizte die
Künstlerin sicherlich der Kontrast zwischen
der Leichtigkeit des kostbaren Papiers und der matten
Schlichtheit der Dispersionsfarbe, die sie
raffinierter Weise zum Teil von der Rückseite auf das
Papier aufbrachte, so dass die Farbe nur
durch das Papier hindurchschimmerte und die
Papierstruktur auf der Farbe sichtbar
blieb. Es
ist das Zarte, das so oft in Ellen Heinemanns
Kunst sich als das Starke erweist. In dieser Weise ist ihre Kunst eine sehr weibliche Kunst.
In die Gruppe reiner und klassischer
Zeichnungen gehören auch die Arbeiten zur Pietà von
Michelangelo. Eine Abbildung dieses
berühmten Werks liegt den fünf Zeichnungen zugrunde,
die im Juli 1998 entstanden. Diese
Zeichnungen sind weitaus stärker durchgearbeitet als die
gerade betrachteten Arbeiten. Da Ellen
Heinemann sich als Christin versteht, war die
Auseinandersetzung mit dem Werk
Michelangelos nicht oberflächlich oder rein optisch. Die
fünf entstandenen Blätter formulieren auch
inhaltlich einen Prozess des Erkennens und
Weiterdenkens. Nähert sich die Künstlerin
im ersten Blatt noch vorsichtig der Form und dem
Thema an, so wird in den weiteren Arbeiten
immer neu interpretiert, isoliert und verfremdet.
Die Gewalt, die der Situation der Pietà
zugrunde liegt, führt in der Zeichnung zu einer starken
Verdichtung des Linienwerks und findet hier
in der Ausstellung einen Anschluss in dem
anfangs beschriebenen Triptychon
an der nächstliegenden Wand.
So schließt sich der Kreis meines Rundgangs.
Im Gegensatz zu Ihrer Malerei, kraftvoll
und leuchtend, sind viele der Zeichnungen von
Ellen Heinemann zart und leicht. Sie zeugen
auch von ihrem Können, ihrer Kunst. Solch
verdichtete Strukturen und gelungene
Linienführungen erreicht man nicht allein durch Übung.
Man sollte doch in diesem Zusammenhang noch
erwähnen, dass die Malerin Ellen Heinemann
bei dem Zeichner Prof. Thiele studierte.
Die schnelle Kunst der Zeichnung, scheinbar
so simpel, ist doch eine wirkliche Kunst. Mit
wenigen Linien heißt es, Wirkungsvolles zu
erreichen. Zeichnung ist wesentlich mehr als
die Vorarbeit zum großen Werk, mehr als ein
Arbeitsmittel. Die Zeichnung bleibt immer eine
unmittelbare Äußerung des Künstlers,
dadurch auch ein wenig privat, und gibt direkt die
Situation und das Gefühl des Augenblicks wieder.Kennzeichnend für die Zeichnungen
Ellen Heinemanns ist besonders ihre sehr
schnelle, spontane Arbeitsweise, aber auch die
Spannung zwischen stark und zart, organischer und strenger Form.
Etwas Auflehnung und Protest liegt auch
darin, in konzeptionellen Arbeiten oder auch in der
Auswahl des Materials.